Das Frontier-Phänomen
Wenn man sich seit vielen Jahren intensiv mit den USA
beschäftigt, dann fällt einem in 2016 vor allem auf, dass das Interesse an den
politischen Entwicklungen hin zu den Präsidentschaftswahlen im November wohl
noch nie so hoch war wie in diesem Jahr. Kein Newsportal kommt dieses Jahr ohne
Sonderthema aus, keine Gemütsregung der Kandidaten bleibt ohne Erwähnung. Diese
machen es den Journalisten aber auch leicht: Wird erstmals eine Frau ins Weiße
Haus gewählt? Kommt der exzentrische Milliardär mit seiner aggressiven Rhetorik
durch?
Leider führt der Druck, viele Textspalten füllen zu müssen
auch dazu, dass der Blick für das verloren geht, was dieser Wahlkampf und seine
Ergebnisse uns über das Land sagen. Viel zu schnell wird Trump als loudmouth abgetan, seine Wähler als
gestrige Einfaltspinsel. Cruz, das ist der Bibel-Fanatiker, Rubio war der
Sonnyboy, Bush war ein Bush und Kasich war der Gute, was die Republikaner aber
nicht erkannt haben. Und bei den Demokraten galt Sanders als der mit den
verschrobenen Ideen; nett, aber für Amerikaner unwählbar und Clinton sozusagen als
Ersatz-Obama, etwas weniger cool vielleicht.
Aber so einfach ist das nicht. Wer sich wirklich der Frage
annähern will, was der Politikbetrieb des Jahres 2016 über Amerika und die
Amerikaner sagt, der muss sich als erstes von dem Gedanken lösen, dass die
Amerikaner mit dem Präsidenten, den sie wählen, irgendjemandem einen Gefallen
tun wollen. Es ist ihr Wahlkampf, es geht um den Präsidenten ihres Landes.
Allein an dieser Erkenntnis scheitern viele Beurteilungen der Vorgänge, wie sie
von europäischen Medien gerne veröffentlicht werden.
Zug nach Westen - ein bedeutendes Motiv für das Verständnis von Amerika |
Es gibt sogar Leute und zwar gar nicht so wenige, für die es
erst recht ein Ansporn ist, einen Kandidaten wie Trump zu wählen, je lauter die
Stimmen im Ausland aufjaulen. Um das nachvollziehen zu können, muss man ein
bisschen was über Amerika verstanden haben und da kommt auch das in diesen
Tagen so viel zitierte Establishment ins Spiel. Amerika, so wie wir es heute
kennen, wurde zu einem bedeutenden Teil von Menschen begründet, die einen
Ausweg aus Entrechtung und Benachteiligung in Europa suchten. Sie schlossen
sich zu intelligent gestalteten Vereinigungen zusammen und hielten nicht viel
von zentralen Instanzen, die über sie Recht und Ordnung sprechen sollten; die
Gemeinschaft war ebenso das verbindende wie auch das ordnende Element. Später
kam die frontier dazu, die letzte Grenze vor einer scheinbar unbewohnbaren Wildnis, die dann aber doch immer
weiter nach Westen verschoben wurde. Auf dem Weg bis zum Pazifik bekam jeder,
der das wollte, ein Stück Land und war fortan Schmied seines eigenen Glückes. So
war vielen im Land Washington schon immer ein mehr oder weniger abstraktes,
fernes Gebilde. Individualität prägte das junge Land, auch Freiraum in jeder
Hinsicht und das Vertrauen in die eigene Kraft.
Nun waren zwar weder Kandidaten noch Wähler des Jahres 2016
persönlich bei den Treks gen Westen dabei, doch das amerikanische Selbstverständnis,
übertragen durch Generationen, fußt zu einem guten Teil auf diesen Prinzipien. Viele
der Menschen sehen sich für ihr Wohlergehen zuerst einmal selbst
verantwortlich. Der Staat, das ist eine mehr oder weniger abstrakte Gestalt,
die Steuern einzieht und die ansonsten nicht übermäßig präsent ist, was
wiederum Tür und Tor dafür öffnet, dass man sich von ihm gerne einmal in seiner
regionalen Identität und selbstverstandenen Kauzigkeit missverstanden fühlen
kann. Solcherlei Empfindungen sind vor allem im Süden und Westen anzutreffen.
Als Barack Obama vor acht Jahren den zentralen Platz an der
Tafel der Staatsmänner und –frauen einnahm, da bekam die Welt einen Eindruck
von dem change, den er mitbringen
würde und die Amerikaner erfuhren, dass „Yes,
we can“ nicht bloß ein griffiger Slogan war, sondern eine
Erwartungshaltung. Obamas Plan sah nichts Geringeres vor als ein anderes
Verständnis eines für die amerikanische Identität bedeutenden Politikfelds, dem
der Außenpolitik. Amerika sollte zukünftig Partner suchen statt Alliierte. Es
sollte neue Wege in der Weltpolitik beschreiten, neue Kommunikationsebenen
ergründen und insgesamt zurückhaltender sein. Dazu kamen dann noch Ideen wie
eine verpflichtende Krankenversicherung, staatliche Hilfen für die vor dem
Abgrund stehende Autoindustrie und staatliches Eingreifen in den Finanzmarkt und
eine deutliche Bedeutungsaufwertung für Umwelt- und Klimaschutz. „We can“ hieß in der Langform, „wir
können ein Land werden, das sich derartig positioniert“ und Obama wusste
natürlich, dass dieses Land keineswegs so homogen war, es nie gewesen ist, als dass
man es so einfach manövrieren könnte. Was er aber wohl unterschätzt hatte, das
war die Dynamik, die sich im Spannungsfeld von Veränderungen ergeben kann.
Legt man die Ergebnisse von Präsidentschaftswahlen in den
USA auf eine Landkarte, dann ergibt sich fast immer dasselbe Bild. Die
Westküste und der Nordosten wählen die Demokraten und der Norden des Mittleren
Westens ebenfalls. Im Herzland, in den ländlichen Regionen also, wählen sie die
Republikaner und im Süden sowie in Texas sowieso. Barack Obama schaffte es
2008, in diesen republikanischen Landschaften einen Pflock einzuschlagen und
die Wahlmänner aus New Mexico, Colorado und vor allem Florida zu gewinnen. Eine
Trendwende aber, eine Umkehr politischer Realitäten, war das nicht. Es war der
junge Schwarze mit dem federnden Schritt und der Vorliebe für Basketball, der
so ganz anders rüberkam als die, die normalerweise mit Washington in Verbindung
gebracht wurden. Die sahen so aus wie John McCain, Obamas Gegenkandidat; schon
älter und grauhaarig und seit vielen Jahren im Politikbetrieb. Obama konnte
damals mit Frische punkten, aber gefallen hat das nicht jedem, im Gegenteil:
Dass McCain, Kriegsveteran, stramm konservativ und einer, der für eine starke
amerikanische Führung in der Weltpolitik einsetzt, gegen diesen Nobody verloren
hatte, von dem man in weiten Kreisen nicht mal so ganz sicher war, wo er
überhaupt geboren worden war, das machte viele wütend.
Barack Obama aber kümmerte sich nicht viel um die Wütenden.
Auch wenn ihm heute wiederum vorgeworfen wird, nichts verändert oder erreicht
zu haben, so ging er tatsächlich ziemlich unerschrocken Themen an, vor denen er
sich vielleicht über den Weg des Verweises auf die politische
Kompromissprämisse auch hätte drücken können. Dieses forsche Eintreten für Dinge,
die ihm am Herzen liegen, ließen den Präsidenten und die Teile seines Volks,
die ihn ohnehin nie gewählt hätten, noch weiter auseinander driften. Obama
verstand die Grundsätze und Vorstellungen dieses Teils der Bevölkerung nicht
und er gab sich auch keine große Mühe, sie zu verstehen. Manchmal, das merkte
man ihm an, brachten ihn diese Menschen an den Rand der Verzweiflung, etwa wenn
er zum wiederholten Male daran scheiterte, die Waffengesetze zu verschärfen.
Wenigstens in einem Feld aber hat der Präsident recht weitreichende Autarkie,
was die Kursbestimmung angeht und so ist Barack Obamas Handschrift vorrangig in
der Außenpolitik ablesbar. Der erste Besuch eines US-Präsidenten in Kuba fiel
in seine Amtszeit, der Versuch einer neuen Annäherung an die arabische Welt und
an den Iran, ebenso wie eine deutliche Abkühlung der Beziehungen zu Israels
Führung. Der russischen Regierung ließ er symbolträchtig einen Reset-Knopf überreichen. Doch so wie
Obama Stärke demonstrierte, indem er sich von einzelnen Meinungsfraktionen
nicht vom Weg abbringen ließ, so sieht es einer wie Putin als Schwäche an, wenn
jemand ihn um einen entspannteren Umgang bittet. Es kann nicht ausgeschlossen
werden, dass Putin die gutgemeinte Geste als weitere Motivation verstanden hat,
mit seinem Kurs fortzufahren, der sich im Wesentlichen dadurch auszeichnet,
dass Putin ziemlich darauf pfeift, was andere denken. Ohne Skrupel ließ er die
Ukraine überfallen, raubte ihr die Krim, entsandte Tausende Soldaten und log
darüber vor der gesamten Weltöffentlichkeit. Reset Button? Der spielte auch
keine Rolle bei Russlands völlig eigenmächtigem Eingreifen in Syrien und dann
schafften es die Russen auch noch, das Ganze hinterher so aussehen zu lassen,
als ob Washington die russische Kriegsführung in Syrien ganz gut finden würde.
Alles das zusammen in einem Topf ist für viele Amerikaner
eine schwer verdauliche Suppe. Das Gefühl, dass das Amerika von Barack Obama
vielleicht das der intellektuellen Eliten und der Angestellten der oberen
Hierarchiestufen ist, aber nicht das Amerika der Rancher im Westen oder der
Industriearbeiter im Süden, verstärkte sich und diesmal ist die personifizierte
Projektionsfläche für den Wunsch nach Veränderung dann erneut derjenige
Kandidat, der am wenigsten Anknüpfungspunkte mit den zurückliegenden acht
Jahren Washington hat. Als Business-Profi weiß einer wie Trump, dass „Make America great again“ zieht in
solchen Zeiten, der Slogan ist seine stärkste Aussage. Vermutlich hätte es die
verbalen Ausfälle gegen Mexikaner, Muslime und europäische Politiker gar nicht
gebraucht, denn was letztlich zählt ist, dass da einer ist, der den Menschen
verspricht, ihnen ihr Amerika wiederzugeben, was sie in acht Jahren Obama
verloren geglaubt haben. Von jeder Stimme, die Trump zum Demagogen oder zum
Idioten abzustempeln versucht, fühlen sich solche Wähler in ihrer Entscheidung
für den, „der mal richtig aufräumt“ noch bestätigt.
Amerika hat sich in den letzten Jahren zu einer Fläche
verwandelt, auf der kaum noch etwas als unverrückbare Gegebenheit hingenommen
wird. Nichts ist zu absurd, um nicht hier und da als Erörterungsgrundlage akzeptiert
werden zu können; keine Faktenlage zu unumstößlich belegt, als dass man sie
nicht trotzdem hinterfragen könnte. Es ist eine Kultur des Zweifels entstanden,
jede Hypothese hat ihre Nische und in solchen Zeiten siegen oft nicht das
Nachdenkliche und Langfristige, sondern das Laute und das Grelle. Wo Hillary
Clinton Politik als Beruf begreift, sieht Donald Trump sie als Plattform, die
es zu erobern gilt und zu einer guten Eroberungsstrategie gehört auch immer das
Überraschungsmoment. Andere Kandidaten, vor allem die im republikanischen
Lager, waren mitunter kurz sprachlos, wenn Trump über seinen Wunsch nach der
neuerlichen Nutzung von Folter sprach oder von Einreiseverboten und seine
Anhänger rieben sich dann die Hände, weil wieder ein Coup gelungen war. Dass er
dann oftmals wieder zurückrudern musste oder sich die lautesten Ankündigungen
oft gar nicht in die schwierigen Rahmenbedingungen der Washingtoner Politik würden
einfügen lassen – geschenkt. Wer sich von den Zweiflern hat anfixen lassen, ist
offen für die simple Strategievorgabe, die empfundenen Unsicherheiten beenden
zu wollen, mal aufräumen zu wollen. In gewisser Weise hat das sogar eine
deutliche Parallele zum Obama-Wahlkampf vor acht Jahren. Auch Bernie Sanders
auf der anderen Seite, im demokratischen Lager, profitiert zumindest in Ansätzen
von diesen Rahmenbedingungen, unter denen in Amerika 2016 Politik gemacht wird.
So ist am Ende das Phänomen Trump nicht der Beleg eines neu
aufkeimenden Faschismus oder einer Zeitenwende. Die Skepsis gegenüber den
Regierenden ist ein Grundbaustein der amerikanischen Seele und ohne ihn hätte
es die Entwicklung des Landes unter Nutzung eines unerschöpflichen Optimismus
und Selbstvertrauens in dieser Form vielleicht gar nicht gegeben. Es würde auch
unter Trump kein neues Amerika geben. Das liegt auch daran, dass jeder
Präsident, der sich allzu weit aus dem Fenster lehnt, verlässlich spätestens
nach der Hälfte der Amtszeit von einem dann neu zusammengesetzten Kongress wieder
eingefangen wird. Und bis es überhaupt zu einem Präsidenten Trump kommen
könnte, steht da ja noch Hillary Clinton im Weg. Die Frau, die in Obamas Namen
damals den Reset-Knopf an Putins Außenminister Lawrow überreichte.
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